Der Suchtgiftexperte Univ.-Prof. Dr. Otto Lesch spricht sich seit langem für eine sachliche Debatte, ein breiteres Angebot an Cannabismedizin und eine begleitende klinische Forschung aus. Wir haben mit dem Facharzt an der Medizinischen Universität für Psychiatrie und Psychotherapie und Board Member der International Academy of Law and Mental Health, über folgende Themen gesprochen:
- die klinische Datenlage zur Wirksamkeit von Cannabis,
- häufige Mythen wie „Cannabis löst Schizophrenie aus“ und
- die Folgen einer gescheiterten Verbotspolitik.
Herr Prof. Lesch, Sie konnten in Ihren Studien die These widerlegen, dass die Blüten der Pflanze Cannabis sativa eine Einstiegsdroge für härtere Drogen sind. Warum hält sich dieses Vorurteil dennoch so hartnäckig?
Wir haben seit 2002 in mehreren Wellen 8.000 Jugendliche um das 18. Lebensjahr mittels Fragebogen und Drogentest untersucht und die Faktoren in Topjournals publiziert, die mit einer Suchtmitteleinnahme korrelieren und wie diese Suchtmittel interagieren. Der primäre Grund für einen Einstieg in den Gebrauch psychoaktiver Substanzen sind psychische Faktoren wie etwa ein zyklothymes oder irritables Temperament oder das Vorhandensein einer ADHS. Wenn es so etwas wie eine Einstiegsdroge gibt, dann ist es Nikotin. Nikotin führt wie Alkohol zu einer raschen Abhängigkeit. Cannabis mit geringem THC-Wert ist diesbezüglich weniger rasch Abhängigkeit erzeugend. Das wahre Problem liegt woanders: Wir haben 18.000 direkte Tabaktote und 8.000 direkte Alkoholtote jährlich, aber keinen einzigen Cannabistoten. Die Tabak- und Alkohollobby definiert hier lautstark einen Außenfeind, um von der eigenen Schädlichkeit abzulenken. Sie bedient sich dabei sog. Experten, die noch nie oder sehr selten zu diesem Thema wissenschaftlich publiziert haben, aber Suchtkranke aus der täglichen Arbeit kennen und alles aus einem sehr voreingenommenen Blickwinkel sehen.
Wird der Begriff Cannabissucht missbraucht?
Ja – sowohl von der Tabak- und Alkohollobby als auch von Personen, die am Cannabisverkauf verdienen. Umso ausgeprägter das „zwielichtige“ Image der Hanfpflanze ist, umso ausgeprägter ist das Interesse bei Jugendlichen an einem Cannabiskonsum. Je klarer man den Standpunkt vertritt, dass Hanf eine fasrige, schnell wachsende, überall vorkommende Pflanze ist, die man medizinisch als Salbe und Medikament verwenden kann, desto uninteressanter wird sie für den Massenkonsum von Jugendlichen. Das wurde von der Politik in Österreich aber bisher leider nicht verstanden.
Ihr Kollege, der Suchtmediziner Kurosch Yazdi, behauptet, es gebe eine Zunahme an Cannabis-assoziierter Schizophrenie. Wie bewerten Sie diese Aussagen?
Schizophrenie, eine primäre Denkstörung, die im Jugendalter auftritt, zeigt epidemiologisch auf der ganzen Welt sehr ähnliche Häufigkeiten (0,6 bis 1,0 Prozent), gleichgültig ob in diesen Gegenden Cannabis geraucht wird oder nicht. Die multifaktoriellen Ursachen sind sowohl genetisch als auch toxisch (Infektionen oder Vergiftungen etwa durch Tabak in der Schwangerschaft). Cannabis hat in der Ursache von Schizophrenie keinen besonderen Stellenwert. Schizophrene Jugendliche unternehmen vor allem bei Konzentrationsstörungen und dem Eindruck der Gefühllosigkeit einen Therapieversuch mit Cannabis, und bei manchen hilft das auch, aber dieser Bereich muss noch viel besser beforscht werden. Es deuten viele Studien darauf hin, dass Cannabidiol-(CBD-)haltige Cannabisprodukte einen protektiven Effekt haben können, während eine Psychosegefahr eher von Produkten mit sehr hohem THC-Gehalt ausgeht. Ein Grund mehr, kontrollierte Cannabispflanzen mit klaren Inhaltsstoffen zu bevorzugen, statt illegalen Cannabisgebrauch mit unbekannten, teils toxischen Konzentrationen zu fördern. Eine Verbotspolitik wirkt immer tabuisierend und verhindert damit Aufklärung und Prävention.
Wie würden Sie die Studienlage zu Cannabis skizzieren?
Für die Polyneuropathie als auch die Begleitung bei Chemotherapie liegen bereits heute genug klinische Daten vor, die eine positive Wirkung zeigen. Alle anderen Indikationen haben Phase-2-Studien, aber keine prospektiven Phase-3- und -4-Studien absolviert. Allerdings haben alle Experten aus den verschiedenen Bereichen positive Beispiele aus ihrer Praxis berichtet. Vor allem für Schwerstkranke wollte keiner der Experten auf Cannabis auch in Blütenform verzichten, da die rasch einsetzende schmerzstillende und entspannende Wirkung bislang in der Intensität von keinem anderen Produkt erreicht wurde. Die klinische Forschung ist dazu bereits im Gange.
Was erschwert klinische Studien zur Wirksamkeit der Arzneidroge Herba Cannabis?
Die Dosis ist oft nicht stabil, die Zusammensetzung der einzelnen Cannabinoide ist oft sehr unterschiedlich. Wir mischen derzeit vier verschiedene Cannabinoide in unterschiedlichen Mengen und machen damit Phase-1-Studien. Wenn sich Cannabinoide in der Praxis durchsetzen, wären sie wahrscheinlich deutlich kostengünstiger als jetzt verwendete Medikamente. Das ist auch ein Grund dafür, dass die Pharmaindustrie hier nicht sehr aktiv ist. Eine Hochpreispolitik mit entsprechenden Renditen lässt sich bei Cannabis nicht erzielen.
Wo haben Cannabinoide aus Ihrer ärztlichen Erfahrung eine Berechtigung in der Therapie?
Aus meiner psychiatrischen Sicht haben sie in der Epilepsie, bei Spasmen, neurologischenr Erkrankungen und in der Sterbebegleitung ihren Platz. Wie weit sie auch angstlösend und antidepressiv wirken, muss noch in Studien gezeigt werden. Für manche Prozesspsychosen mit dem Zentralsymptom Filterstörung – sprich, alle sensorischen Eindrücke sind gleich, und der Patient kann sich nicht auf einen Eindruck konzentrieren – verwende ich bereits Dronabinol mit gutem Erfolg.
Dänemark testet ein Programm für Cannabismedizin, in Deutschland plant der Arzt und Gesundheitsminister Karl Lauterbach die Cannabis Liberalisierung für 2023. Der Sucht- und Drogenkoordinator der Stadt Wien, Ewald Lochner sieht ebenfalls Handlungsbedarf. Österreichs Politik bleibt untätig.
Diese Untätigkeit sieht man an vielen Präventionsprogrammen. Man hat den Eindruck, dass die Politik der Tabak- und Alkoholindustrie verbunden ist und dabei auf den Außenfeind Cannabis setzt. Die Pharmalobby spielt sicher auch eine Rolle. Israel hat in den letzten Jahrzehnten erfolgreich gezeigt, wie man mit Cannabis in der Medizin verfahren sollte. Diesen Zugang würde ich auch der Bundesregierung empfehlen: Cannabis ist gesetzlich so zu behandeln wie Tabak, Alkohol und Beruhigungsmittel. Cannabis sativa ist kein Genussmittel, sondern enthält pharmakologisch wirksame Substanzen, die in die Hand eines Fachmannes, sprich Arzt oder Apotheker, gehören.
Ist die jetzige Cannabispolitik gescheitert?
Ja. Wir sollten Cannabis in der Medizin verwenden und dessen Einsatzgebiete fördern. Dafür braucht es ein breites Angebot und eine Liberalisierung. Wir brauchen Cannabismedikamente für Menschen mit Spasmen, für schwere Polyneuropathien und für die harte Haut alter Männer, dann würde nämlich kein Jugendlicher mehr auf die Idee kommen, Cannabis als etwas Besonderes zu sehen.